Eine Idee bis zum Product-Market Fit zu bringen ist ein kritischer und oft komplizierter Meilenstein für euer Startup. In diesem Artikel erklären wir neun verschiedene Perspektiven auf den Product-Market Fit, die euch helfen können, den Validierungsprozess zu meistern.
Einführung
Die Validierung des Product-Market Fit (PMF) ist der wichtigste Meilenstein für ein Startup. Er ist der Nachweis, dass ein Produkt eine ausreichende Entwicklungsreife erreicht hat, sodass der Markt es haben will. Vor dem PMF beschäftigen sich Gründer:innen ausschließlich mit Forschung an Kund:innen und Produktentwicklung. Nach Erreichen des PMF können sie dann größere Investitionen gewinnen, ihre Marketing-Aktivitäten erweitern und das Wachstum ihres Unternehmens beschleunigen.
Wir haben das PMF Maturity Model als Werkzeug für den Einsatz beim Gründer-Coaching entwickelt. Es besteht aus einer Folge von neun Aktivitäten und Meilensteinen, die von der ersten Planungsphase eines Startups bis nach der Gründung des Unternehmens und dem Launch seines Produkts. Das Modell wurde durch das Investment Readiness Level von Steve Blank inspiriert und ist auch eng damit verwandt.
Was heißt eigentlich, ‚Produkt‘?
Es gibt leider unterschiedliche Definitionen von Product-Market Fit. Diese hängen davon ab, was man unter ‚Produkt‘ versteht. Mit einer engen Interpretation wird ‚das Produkt‘ lediglich als das Kernprodukt (‚core product‘) verstanden, das den Basiskundennutzen bietet. Bei Tesla ist das Kernprodukt das Auto, das man im Autohaus kauft. Mit dieser Betrachtungsweise wird PMF erreicht, wenn Nutzer:innen sich mit der Nützlichkeit und Nutzbarkeit des Kernprodukts zufrieden erklären.
Mit einem breiteren Verständnis wird ‚Produkt‘ aber als Kernprodukt zusammen mit seinem gesamten Ökosystem verstanden. Dieses Ökosystem enthält Faktoren wie die Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder die Garantie für die Verfügbarkeit von Ersatzteilen bis in die Zukunft. Diese erweiterte Perspektive wird ‚Whole Product‘ (das ganze Produkt) genannt. Bei Tesla gehören die Supercharger-Stationen zum Whole Product, weil viele Kund:innen diese als notwendige Komponente der Mobilitätslösung ansehen, die sie kaufen.
Natürlich bedeutet die Validierung von Product-Market Fit in diesem Fall der Nachweis, dass Kund:innen mit dem gesamten Whole Product zufrieden sind. Das weist man beispielsweise mit einem effizienten Kundenakquiseprozess oder durch das Erreichen einer bestimmten Erfolgsmetrik wie monatliches Umsatzwachstum nach. Unser PMF Maturity Model verwendet diese erweiterte Sichtweise.
Level 1: Problem-Solution Fit
„Unsere Idee ist plausibel.“
Problem-Solution Fit ist der erste Schritt auf dem Weg zu einem innovativen Produkt. Problem-Solution Fit bedeutet, diese vier Kriterien zu erfüllen:
- Ihr habt eure Zielgruppe richtig identifiziert.
- Das Kundenproblem, das ihr lösen wollt, existiert, und eure Zielgruppe wünscht eine (bessere) Lösung.
- Eure Zielgruppe hält eure Produktidee für eine attraktive Lösung ihres Problems.
- Es gibt keinen auf Anhieb erkennbaren Grund, warum eure Zielgruppe eure Lösung nicht wählen sollte.
Problem-Solution Fit ist ein Plausibilitätscheck für euer Lösungskonzept, den ihr mithilfe von Interviews mit potenziellen Kund:innen durchführt. Er ist der notwendige erste Schritt im Product-Market Fit, weil es keinen Sinn ergibt, mit der Entwicklung eines Produkts zu beginnen, wenn ihr nicht einmal theoretisch zeigen könnt, dass es dafür Interessent:innen gibt.
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Level 2: First User Experiments
„Wir lernen jetzt kontinuierlich von Nutzer:innen.“
Der erste Schritt in der Validierung eines echten Produkts (im Gegensatz zur Idee eines Produkts) besteht darin, Testnutzer:innen frühe Versionen des Produkts zu geben und von ihnen zu lernen. Ihr bekommt dadurch Feedback über ihre Wünsche, Bedürfnisse und Verhaltensweisen und ihr entdeckt neue Wege, Nutzen für sie zu stiften. Ihr führt auch Experimente durch, um Hypothesen zu testen, die für den Erfolg eures Produkts entscheidend sind.
In dieser frühen Phase ist euer Produkt ein sogenanntes Minimum Viable Product (MVP). Ein MVP ist eine reduzierte Version des endgültigen Produkts, das ihr zu einem bestimmten Lernzweck baut. Der Lernprozess ist iterativ, das heißt, jedes Experiment erzeugt die Erkenntnisse, die ihr braucht, um die nächste Version zu entwickeln. Dies Iteration wird Build-Measure-Learn Schleife genannt. Mit der Zeit nähern sich eure MVPs immer mehr dem endgültigen Kernprodukt.
Level 3. First Customer Commitments
„Potenzielle Kund:innen erkennen den Nutzen unseres Produkts.“
Startup-Gründer:innen validieren das Interesse für ihre Produkte durch verbindliche Zusagen von potenziellen Kund:innen. Je höher der Zeit- oder Geldaufwand für diese Zusagen ist, desto stärker ist ihre Aussagekraft. Zwei Beispiele für solche Zusagen sind:
- Eine erfolgreiche Crowdfunding-Kampagne, zum Beispiel bei Kickstarter
- Unternehmen erklären ihr Interesse am neuen Produkt mit einem sogenannten Letter of Intent.
Level 3 ist ein wichtiger früher Validierungsmeilenstein, weil er beweist, dass potenzielle Kund:innen den Nutzen erkennen können, den euer Produkt ihnen verspricht. Wenn ihr andererseits bei potenziellen Kund:innen nicht einmal ein bisschen Interesse erzeugen könnt, hat euer Produkt vermutlich einen schwerwiegenden konzeptuellen Mangel.
Level 4: Operative Go-Ahead
„Unser Kernprodukt trifft die Nutzererwartungen.“
Operative Go-Ahead bedeutet mindestens, dass euer Kernprodukt die Probleme eurer Kund:innen löst und ihre Erwartungen bezüglich Leistung und Gebrauchstauglichkeit erfüllt. Im Idealfall habt ihr aber auch die „Secret Sauce“ entdeckt, die sie überrascht und begeistert, sodass euer Produkt jetzt die einzige Lösung ist, für die sie sich interessieren.
Operative Go-Ahead bedeutet auch, dass ihr alle praktischen Hindernisse für den Einsatz eures Produkts beseitigt habt, beispielsweise dass es zu kompliziert ist oder dass eure Kund:innen nicht die richtige Infrastruktur dafür besitzen.
Wenn man nur das Kernprodukt betrachtet, entspricht Operative Go-Ahead im Wesentlichen dem Product-Market Fit. Allerdings kann man aus dem Operative Go-Ahead nicht auf Kundenzufriedenheit schließen.
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Level 5: Political/Psychological Go-Ahead
„Es gibt keinen subjektiven Widerstand gegenüber unserem Produkt.“
Eure Kund:innen müssen euer Produkt nicht nur praktisch, sondern auch politisch und psychologisch akzeptieren.
Politische Akzeptanz ist bei großen Organisationen wichtig, wo es mehrere Personen geben kann, die alle unterschiedliche Meinungen bezüglich eines Produkts haben, die auf ihren jeweiligen Partikularinteressen beruhen. Solche politischen Barrieren zu überwinden kann sehr schwierig sein und kann eine Änderung des Geschäftsmodells erfordern.
Einzelpersonen können einen psychologischen Widerstand gegenüber einem ungewohnten Produkt haben. Das passiert, wenn es mit ihren Glaubenssätzen oder Gewohnheiten in Konflikt steht. Segway ist in den frühen 2000ern unter anderem deswegen gescheitert, weil die Leute glaubten, das Gerät würde sie bekloppt (‚dorky‘) aussehen lassen.
Level 6: Business Go-Ahead
„Der Wechsel zu unserem Produkt ist gerechtfertigt.“
Business Go-Ahead bedeutet, dass der Kauf des Produkts für eure Kund:innen wirtschaftlich sinnvoll ist. Wie bei Level 4 hat dieser Meilenstein sowohl einen negativen als auch einen positiven Aspekt.
Auf der positiven Seite bedeutet Business Go-Ahead, dass eure Kund:innen glauben, euer Produkt bietet ihnen genug Vorteile, um den Kauf zu rechtfertigen. Sie messen diesen Vorteil auf unterschiedliche Weise, zum Beispiel indem sie den Return On Investment berechnen oder schätzen, wie weit das Produkt ihnen dabei hilft, ein spezifisches Ziel zu erreichen.
Auf der negativen Seite darf es für den Business Go-Ahead keine verbleibenden Hürden für das Produkt mehr geben, zum Beispiel die Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind für sie nicht annehmbar oder der Nutzen des Produkts ist zu gering.
Level 7: Customer Satisfaction
„Kund:innen bestätigen, dass sie mit unserem Produkt zufrieden sind.“
Messbare Kundenzufriedenheit ist der erste wirklich zuverlässige Indikator für den Product-Market Fit des Whole Product. Hier sind zwei beliebte Metriken:
- Net Promoter Score. Dieser basiert auf der Frage, wie wahrscheinlich ist es, dass Sie dieses Produkt weiterempfehlen werden?
- Sean Ellis-Test. Der PMF gilt als gut, wenn mindestens 40% der Kund:innen sagen, sie wären sehr enttäuscht, wenn sie das Produkt nicht mehr nutzen könnten.
Im Gegensatz zu den Levels 1 bis 6 könnt ihr bei den Levels 7, 8 und 9 erst nach der Markteinführung mit der PMF-Validierung beginnen.
Level 8: Efficient Customer Acquisition
„Unser Marketing-Prozess ist skalierbar.“
Es kann sein, dass ihr zu Anfang mit dem Marketing einen hohen persönlichen Aufwand habt. Das ist aber auf Dauer zu teuer, und es ist auch nicht skalierbar. Ihr braucht stattdessen einen Kundenakquiseprozess, der neue Kund:innen zuverlässig, kontinuierlich und automatisch generieren kann.
Hier sind zwei Merkmale eines effizienten und effektiven Kundenakquiseprozesses:
- Das Verhältnis von Customer Lifetime Value zu Customer Acquisition Cost überschreitet eine vorgegebene Schwelle, die typischerweise bei 3 bis 5 liegt.
- Er ist skalierbar, das heißt, eine Erhöhung des Marketing-Budgets führt zu einer entsprechenden Zunahme an Neukunden.
Investor:innen interessieren sich für diesen Meilenstein, weil sie wissen wollen, dass das Geld, das sie in ihre Startups investieren zu einem schnellen Wachstum führt.
Level 9. Metrics That Matter
„Wir können stetigen Erfolg nachweisen.“
Die stärkste Validierung von Product-Market Fit ist der gleichbleibende Erfolg mit einem oder mehreren aussagefähigen Metriken wie beispielsweise das monatliche Umsatzwachstum oder die Customer Churn Rate (Kündigungsrate).
Mindestens einer dieser Messwerte sollte eine sogenannte Nordsternmetrik sein. Eine Nordsternmetrik misst den gesamten Kundennutzen, den euer Produkt in einem bestimmten Zeitraum erbringt. Für Uber könnte das zum Beispiel die Gesamtzahl aller Fahrten sein, die das Unternehmen in einem Monat vermittelt, weil dies den Kundennutzen sowohl für die Fahrer:innen als auch für die Fahrgäste darstellt.
Ein letzter Gedanke
Ein Produkt von der Idee bis zum Product-Market Fit zu bringen ist eine lange, herausfordernde und oft frustrierende Aufgabe. Aber der Lohn für den Erfolg ist ein Produkt, dass es euch möglich macht, gewinnbringend zu wachsen und so ein Unternehmen von bleibendem Wert aufzubauen.
ÜBER DIE AUTOR:INNEN
Jana Görs und Graham Horton sind die Gründer:innen von Zephram. Außerdem lehren sie die Startup-Engineering-Kurse an der Universität Magdeburg und sind seit Jahren Dozent:innen unserer Education Programme Startup School und Accelerator.
Dieser Artikel enthält Auszüge aus dem Online-Workshop „Problem-Solution-Fit“, den sie bei der Startup School im Mai 2020 gehalten haben. Der Originalartikel ist in Englischer Sprache verfasst.
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