Höhere Kosten, verlorene Aufträge und ausgebremste Digitalisierung: Der Fachkräftemangel bedroht nicht nur vereinzelte Branchen, sondern die gesamte Wirtschaft. Und der demografische Trend verschlechtert die Lage weiter. Welche Folgen das hat, wie Technologie helfen kann und auf welche Strategien Unternehmen im War of Talents setzen – hier sind die wichtigsten Insights der Hinterland of Things Conference 2023.
Fachkräftemangel als akute Gefahr für Wachstum und Wohlstand
Es ist ein alarmierender Rekord: Noch nie gab es so viele offene Stellen im IT-Bereich wie heute. Quer durch alle Branchen fehlen in deutschen Unternehmen aktuell mehr als 130.000 Expert:innen. Ihr eigentlicher Job: Software entwickeln, die Cybersicherheit stärken oder IT-Projekte leiten. Doch oft bleiben diese Aufgaben aktuell auf der Strecke.
„Der Fachkräftemangel ist eine akute Gefahr für unser Wachstum und unseren Wohlstand”, warnte Bernd Leukert, Technologie Chef der Deutschen Bank, auf der Hinterland of Things Conference am 14. Juni im Bielefelder Lokschuppen.
Dabei machte er klar, dass Deutschland sich zu lange auf der Vergangenheit ausgeruht habe: „Wir haben all die Zeit von China oder Indien als Quelle neuer Talente profitiert, doch diese Länder bekommen jetzt selbst demografische Probleme”, so Leukert.
Jedes Jahr gehen eine halbe Millionen Arbeitskräfte verloren
Und das Problem wird immer größer: Jedes Jahr „gehen uns eine halbe Million Arbeitskräfte verloren”, erklärte Tech-Investor Philipp Klöckner. Der Fachkräftemangel bremst somit auch den digitalen Fortschritt zunehmend aus. „Das demografische Problem zwingt uns zu höherer Produktivität”, führte Klöckner fort. Und der Einsatz von KI sei ein entscheidender Hebel, die Produktivität zu erhöhen. Die riesige Lücke auf dem Arbeitsmarkt bedroht somit nicht nur Unternehmen, sondern den gesamten Wirtschaftsstandort Deutschland.
Technologie als Lösungsansatz demografischer Probleme
Die Zahlen machen deutlich: Es sind dringend Lösungen erforderlich, die dem Fachkräftemangel entgegensteuern – darin waren sich alle Expert:innen einig
„Wir müssen auf Technologien setzen, um unsere demografischen Probleme zu lösen”
Bernd Leukert, Deutsche Bank
Eine Alternative sehe das Vorstandsmitglied der Deutschen Bank aktuell nicht. Erst im letzten Jahr hat das Unternehmen sein IT-Personal in Indien erheblich aufgestockt, um unter anderem die Programmierung von Software voranzutreiben.
Auch die KI Bundesvorsitzende Vanessa Cann bestätigte: „Viele Unternehmen werden auf die Automatisierung von Prozessen setzen müssen, um das Problem zu lösen.” Mit dem AI Forum hat Cann verschiedene KI-Verbände zusammengebracht, um die Interessen deutscher Gründer:innen in der Politik zu vertreten.
Diversität bietet riesiges, ungenutztes Potenzial
Ein regelmäßiges Thema auf den Bühnen waren aber auch die strukturellen Probleme hierzulande: „Menschen mit Migrationshintergrund haben oft keinen Zugang zu Fundraising oder anderen Unterstützungen”, betonte Gülsah Wilke, Mitgründerin von 2hearts. Der gemeinnützige Verein bietet ein umfangreiches Mentoringprogramm an, um junge Menschen mit Migrationshintergrund beim Eintritt in den Arbeitsmarkt an die Hand zu nehmen. Das Ziel: Diversität im Arbeitsmarkt fördern. Wilke machte klar: „Wir haben hier ein riesiges, ungenutztes Potenzial.”
Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) gibt ihr dabei Recht: Würden mehr Frauen in den Arbeitsmarkt treten, könnte dies einen Zuwachs von 600.000 Arbeitskräften bedeuten. Bei Frauen mit Migrationshintergrund wären zusätzliche 400.000 möglich.
War of Talents: „Talente können überall hin, wo sie wollen”
Dass Unternehmen sich bei jungen Talenten bewerben müssen, ist für viele noch eine verkehrte Welt. Doch ob sie die neuen Spielregeln mögen oder nicht: „Talente haben die Wahl, überall hinzugehen, wo sie wollen“, warnte Brigitte Mohn von der Bertelsmann Stiftung. Auch Gründer:innen würden sich überlegen, ob sie Deutschland als Standort wählen. Der Grund ist oft die deutsche Bürokratie. „Viele Leute werden dadurch immer unzufriedener und das ist gefährlich”, so Mohn.
Unternehmen sind gezwungen, sich im Wettbewerb um neue Talente attraktiv zu positionieren – vor allem im Bereich Deep Tech. Denn der Fachkräftemangel sei hier noch weitaus schlimmer, erzählte Markus Pflitsch, Gründer von Terra Quantum. Seine Lösung: Die „besten Wissenschaftler:innen einzustellen, die ich kriegen konnte.” Junge Talente würden diesen Beschäftigten folgen, da beim Quantencomputing oft intrinsische Motivationen eine große Rolle spielen.
Nicht nur Gehalt spielt eine Rolle
Bei der Gewinnung neuer Talente gehe es also nicht nur um Geld – so sah es auch Dexory Gründer Andrei Danescu: „Finanzielle Anreize sind eine Sache, aber viele Menschen möchten auch wirkliche Probleme lösen”, erzählte er. Ohnehin könnten kleine Startups beim Thema Gehalt nicht mit den großen Tech-Riesen mithalten.
Ziel vieler Unternehmen sollte es daher sein, junge Menschen zu begeistern. Das Familienunternehmen LEIPA setzt hierbei auf die Kooperation mit der Online-Plattform simpleclub. „Es ist auch eine Marketingmaßnahme, um potenzielle Auszubildende anzuwerben”, gestand HR-Managerin Nicole Vierck.
Führungskräfte müssen auf Augenhöhe agieren
Und auch Führungskräfte sollten ihre Haltung an den Wertewandel anpassen. Der Grundsatz: „Lead by example“ – so fasste Angelika Gifford, Europa-Chefin von Meta, die neue Erwartungshaltung an Chefpositionen zusammen. Demnach müsse jeder CEO bereit sein, die Probleme selbst anzupacken und auf Augenhöhe mit den Beschäftigten zu agieren.
Das war die Hinterland of Things 2023
Wir haben für dich das Geschehen auf der Hinterland Stage aufgezeichnet.